Arne Schuster









Riesenbecker Sixdays 2006






So war 's





Mai 2006

Riesenbecker Sixdays

Sonnabend, 20. Mai 2006

Tag 1, Von Riesenbeck nach Ibbenbüren



Seit dem frühen Morgen gießt es wie aus Kübeln. Stundenlanger Dauerregen lässt die Stimmung auf das Minimum absinken, zumal der Himmel auf ganzer Front nicht einen hellen Fleck erkennen lässt. Wieder so eine Situation: Man denkt, hofft, glaubt, dass der Wetterbericht – wie immer – nicht zutrifft, wird aber Lügen gestraft. Seit der Wetterdienst Satelliten und Computer einsetzt, passt selbst das regionale Wetter und der angekündigte Regen kommt. Besser noch: Bei Ankunft auf dem Parkdeck in Ibbenbüren gibt es gerade die 12-Uhr-Nachrichten. Und die kündigen für den Nachmittag eine Sturmwarnung für das gesamte Münsterland an.



Warum sich trotzdem über 400 Menschen zusammenfinden um sich 20 Kilometer durch das Sauwetter zu kämpfen, bleibt eines der vielen ungelösten Rätsel dieser Welt. Nass ist es und kalt. Und der kräftige Wind kommt jetzt auch noch dazu. Spontan fällt mir eine Situation von meinem zweiten Marathon ein. Damals war ich kurzentschlossen nach Frankfurt gefahren, weil ich meinen ersten Marathon in Berlin ganz erstaunlich gut überstanden hatte. Nicht bedacht hatte ich, dass sich 4 Wochen nach dem Berlin Spätsommerwetter in Frankfurt gegen Ende Oktober der Herbst nicht mehr verleugnen ließ. Als ich mich am frühen Morgen mit mehren Läufern vom Hauptbahnhof in Richtung Messegelände in Bewegung setzte und dann bei richtig kalter Witterung der Regen einsetzte, kommentierte das einer der Mitstreiter ganz locker mit: „Das ist gut wenn das jetzt regnet. Dann lässt nämlich der Wind nach...“



Pünktlich, etwa eine viertel Stunde vor dem Start ließ der Regen erstaunlicherweise nach. Langsam, ganz langsam konnte man auch den einen oder anderen blauen Schimmer in der nicht mehr ganz so dichten Wolkendecke sehen. Jetzt kommt der Durchblick. Man klammert sich an alles. Erfreulicherweise geht es in Riesenbeck erst einmal leicht abwärts und dann relativ eben durch die Bauernschaften Lage und Birgte.



Peinlich war es dann schon, als ich bereits nach circa 3 Km hinter mir ein Fahrrad hörte. Offensichtlich war der Fahrer nicht bereit, mich zu überholen. Im Gegenteil, er schien auf's Äußerste darauf bedacht zu sein, immer schön brav hinter mir zu bleiben. Das Rätsel klärte sich dann ganz schnell. An einer scharfen Wegbiegung konnte ich kurz schräg nach hinten in die Richtung blicken, aus der wir gerade gekommen waren und erblickte – nichts. Jedenfalls keine Mitläufer. Offensichtlich war ich der letzte Läufer und bei dem Radfahrer handelte es sich um den Schlussmann, der aufpassen musste, dass niemand verloren ging. Kein Wunder, dass der mich nicht überholen wollte.



Der Frust ließ sich überraschenderweise aber noch steigern. Bei jedem Streckenposten, an dem wir vorbei kamen musste ich keine fünf Meter hinter mir etwa folgende Szene anhören: „Hallo, Ihr könnt jetzt Schluss machen. Das war es dann.“



„Ach, sind das schon alle? Gut, Tschüss dann noch und viel Spaß“



Der Frust ließ sich nur ertragen, weil eine ganze Reihen von offensichtlich schnelleren Läufern sich auch nicht so richtig von mir absetzen konnte, sondern immer in Sichtweite blieben. Insbesondere, als wir nach etwa 8 Kilometern parallel zum Dortmund-Ems-Kanal laufen mussten. Auf einmal wunderte ich mich, dass das Läuferfeld vor mir so dicht und irgendwie etwas näher erschien. 100 Meter weiter erkannte ich blitzschnell die Ursache. An eine Kanalbaustelle sollten wir etwa 300 Meter Sand überwinden. Jeder der schon einmal versucht hat, am Strand einige Meter zu laufen, weiß wie schwierig und kraftraubend das ist. Bei jedem Schritt versucht man sich abzudrücken und der Sand gibt nach. Das Läuferfeld hat sich dann wieder auseinander gezogen und die alte Ordnung war bald wieder hergestellt.



Na ja, allerdings macht sich dann doch die jahrelange Lauferfahrung bezahlt. Die Vorauslaufenden kamen immer näher und irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich dann einen überholt habe und dann noch eine Frau und dann war ich nicht mehr letzter.



Das hat aber nicht lange gehalten, dann war der Mann wieder neben mir. Und so langsam wurde uns allen klar, dass auch die letzten blauen Flecken am Himmel verschwunden waren. Im Gegenteil, aus dem Münsterland rollte eine pechschwarze Gewitterfront heran und das, zunächst entfernte, Grummeln wuchs zu einem, nun sich nähernden, Donnergrollen heran. Bald fielen die ersten Tropfen und ein Blick auf die Uhr ließ keinen Zweifel daran, dass noch vierzig bis sechzig Minuten Laufzeit vor uns lagen. Wenn Blitz und Donner fast gleichzeitig erfolgen, weiß man, dass das Gewitter ganz in der Nähe ist. Ja, das war dann auch so. Und so richtig wohl ist auch keinem bei dieser Lektion angewandter Metereologie.



Unter dem relativ dichten Blätterdach eines urwestfälischen Buchen- und Fichtenwaldes ist der Regen nicht so schlimm. Wenn man dann aber etwa einhundert Meter voraus den Waldrand erblickt und auf eine langsam ansteigende Weidefläche schaut, über der sich der Himmel entleert, sinkt das 'Moralometer' auf nie gekannte Tiefstwerte. Jetzt kam es aber ganz dicke. Kaum lag der Wald hinter uns, prasselte der Regen los mit dicken, fette Tropfen. Der Wind fegte den Regen schräg über das Land und auf dem leicht ansteigenden Trampelpfad rann uns das Wasser in Bächen entgegen. Auf die Laufschuhe konnte ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Pfützen und Rinnsale waren nicht mehr zu umlaufen. Augen auf, um nicht in einem dicken Schlammhaufen auszurutschen oder über einen der größeren Steine zu stolpern und weiter bergauf. Als es dann höher in den Teutoburger Wald hinaufging, war das Laufen fast unmöglich.



Mit schnellem Gehen kam man aber auch gut voran. Bezeichnend, dass die Laufschuhe jetzt so aufgeweicht waren, dass sie jeden meiner Schritte mit „Quatsch! - Quatsch!“ quittierten. Man mag nicht an Zufall glauben, aber laufend fragt man sich spätestens jetzt, warum man sich so etwas antut. Geld bringt es nicht (im Gegenteil; Anmeldung, Ausrüstung, Anfahrt und das ganze Drumherum kosten reichlich Geld), Ruhm gibt es nur wenig zu ernten und letztlich auch nur für die Erstplatzierten. Und Selbstbestätigung? Was ist dann bestätigt, wenn man 20 Kilometer in zwei Stunden bei Mistwetter zu Fuß zurücklegt. Eigentlich nur, dass man ein Depp ist.



Meine zwei Mitläufer hatten sich mittlerweile beim Aufstieg leicht absetzen können, allerdings nicht soweit, als dass ich sie aus den Augen verloren hätte. Der Kamm war bald erreicht (so hoch ist dann der Teutoburger Wald dann auch wieder nicht) und auf mindestens gleich bescheidenen Wegen ging es im Regen bergab. Nach kurzer Zeit hatte ich die beiden Mitläufer wieder eingeholt. Ja, das ist der Energieerhaltungssatz. Das hat was mit Masse zu tun. Insbesondere mit beschleunigter Masse. Die hatte ich ja bis auf Kammhöhe hoch gewuchtet und deshalb lief die jetzt fast von alleine bergab.



Als es in die Stadt Richtung Ziel ging, hatte ich bereits die dritte Wasserstelle ausgelassen. Aber bei Temperaturen um die 12° Celsius ist das kaum ein Problem. Der Regen hat ein Übriges getan. Apropos: Ich werde mich bei der Organisation bedanken, weil es heute man tatsächlich ausreichend Wasser auf der Strecke gab (das war jetzt ein Kalauer für Ausdauersportler). Außerdem soll noch erwähnt werden, dass man diese schrumpelige Wasserleichenhaut an den Füßen nicht nur von stundenlangen heißen Wannenbädern oder Schwimmexzessen im Hallenbad bekommt. Nein, einige Kilometer auf der Hausstrecke im strömenden Regen mit den ganz normalen Laufschuhen reichen. Und schon schrumpelt und weicht es.



Auf den letzten ebenen zwei Kilometern habe ich noch einen weiteren Läufer hinter mir gelassen. So, meinen Lieben, teilt man einen Halbmarathon ein. Weitere drei Läufer wären noch machbar gewesen, aber bei diesem Wetter war mir 'ins Ziel kommen' genug. Und außerdem muss ich ja morgen noch einmal laufen. Dann geht es von Ibbenbüren nach Tecklenburg und es sind einige Steigungen zu überwinden. Meine Hoffnung ruht allerdings auf den Gefällen.



Ergebnis: Platz 438 von 442 gewerteten Läufern

Riesenbecker Sixdays

Sonntag, 21. Mai 2006

Tag 2, Von Ibbenbüren nach Tecklenburg



Mir tut mein linker Knöchel weh. Nicht beim Laufen, sondern nachher. Auch so ein Phänomen ohne zündende Erklärung. Gestern nach dem ersten Lauf hatte ich bereits etwas bemerkt, aber heute nach dem zweiten Lauf ist es wirklich schlimmer geworden. Aber was sollte man auch erwarten, von der 'schlimmsten' Etappe. So war sie uns jedenfalls heute morgen beim üblichen Briefing während der Busfahrt angekündigt worden. Offensichtlich war die Streckenbeschreibung der willkommene Anlass, nicht näher auf das Wetter eingehen zu müssen. Das war nicht dramatisch besser als am Vortag. Aber der Wetterbericht, der gestern ja erstaunlicherweise gnadenlos zutreffend war, hatte für heute eine leichte Besserung bis zum Abend versprochen.



Beim Warten auf den Start wurde es dann auch etwas frühlingshafter. Was aber den Veranstalter lediglich animierte, darauf hinzuweisen, dass somit die Wahl des richtigen Outfits für diesen Tag recht schwierig sei. Zum Wechseln war es eh zu spät. Also freut man sich über die wenigen azurblauen Flecken zwischen den regengrauen Wolken und hofft auf gesundes Ankommen.



Auf die Frage, ob die Strecke eben sei, wurde dann grinsenderweise geantwortet: “Ja, auf den ersten drei Kilometern“. Drei hammerharte Anstiegen wurden angekündigt und auch gleich darauf hingewiesen, dass man in Tecklenburg angekommen, sich nicht zu früh freuen möge. Zunächst sei noch eine Extraschleife steil abwärts über den Hexenpfad, am Haus Mark, dem alten Tecklenburger Bahnhof und den Königsteichen vorbei bis zu einer Straße, die sich 'Am Himmelreich' nennt. Offensichtlich, das ist wohl der Sixdays-Kalauer; hat die Straße den Namen von ihrem steil in einigen Windungen nach oben führenden Verlauf. Aber unter Ausdauersportlern regiert auch zweifelsohne das positive Denken. 'Am Himmelreich' ist der dritte und letzte Aufstieg.



Das ist zwar so auch nicht richtig, den man muss anschließend noch eine lange ansteigende Wegstrecke bis zum Bismarckturm überstehen. Aber in diesem Jahr war zudem noch der Zieleinlauf wegen der Freilichtbühnen-Premiere verlegt worden. Anstatt locker abwärts ins Ziel, mussten wir leicht ansteigend zur Zeitnahme laufen. Nach zweieinhalb Stunden kein Pappenstiel. Aber es wären nicht die Riesenbecker Sixdays, wenn man nicht auf die letzten warten würde. Mit persönlicher Ankündigung, von Cheerleaders mit Pompoms und einer Sambatruppe begrüßt, ließ sich auch die Anstieg ins Ziel überwinden.



Ein weiteres, völlig unerklärliches Phänomen trifft man – nicht nur, aber diesmal auch - in Tecklenburg an. Es handelt sich um das Phänomen der 'variablen Restlaufstrecke'. Bereits einige Kilometer vor dem Ziel wird man mit aufmunternden Zurufen bedacht. Zunächst sind sie meistens noch unspezifisch (Superleistung! Du schaffst das!), werden dann aber ab etwa einen Kilometer vor dem Ziel sehr spezifisch. Der erste Zuruf wies mich noch auf konkrete 900 Meter bis zum Ziel hin (ächz!), die sich aber bereits wenige Meter weiter auf zweihundert Meter wunderlicherweise verkürzt hatten. Aber nur um bei nächster Gelegenheit sich auf dreihundert Meter zu verlängern. Mein – offensichtlich – recht ungläubiges Staunen wurde kurzerhand mit „Da, gleich um die Ecke kannst Du das Ziel fast schon sehen“ quittiert.



Von unterwegs gibt es da nicht so viel zu berichten. Zu Beginn durfte ich mir die Kommentare der beiden begleitenden Schlussfahrer anhören. Ich war mal wieder der letzte. Aber auch diesmal waren die Steigungen meine Verbündeten. Dann auf jede Steigung folgt ein Gefälle und da war ich nun mal der Meister. Und Lügen gestraft habe ich Sie. Es war doch etwas wärmer als gestern und geregnet hat es unterwegs auch nicht. So konnte ich schon bald meine Laufjacke ausziehen und in erprobter Weise um den Bauch binden. Einer der Radfahrer hat meinen Laufstil und meine Schnappatmung wohl so interpretiert, dass er mich als Dauerbegleitung angesehen hat.

„ Du kannst mir ruhig Deine Jacke geben, wenn Sie Dich stört.“

„Lieber nicht, wer weiß schon, wann ich sie wieder brauche.“

„Kein Problem, ich kann sie Dir dann sofort wiedergeben.“

Ich kann jetzt auf Anhieb nicht sagen, wie das zu interpretieren ist. Die Riesenbecker Sixdays sind stolz auf den familiären Charakter. Jedem wird geholfen, jeder wird unterstützt und jeder soll nach Möglichkeit alle sechs Läufe mitmachen. Deshalb erhält man an Strecke und an jeder Trinkstation aufmunternde Zurufe („Wir sehen uns ja gleich in Tecklenburg“). Aber der Radfahrersäckel hat mir nicht zugetraut, noch weiter nach vorne zu rennen.



Tiefe Befriedigung haben einmal mehr die diversen Straßensperrungen gebracht. So ganz hinten läuft man ja meistens allein und zwischen den einzelnen Läufern ist immer reichlich Platz. Als ich die Bundesstraße 219 überquerte, habe ich an dem Polizisten vorbei mal in Richtung Dörenther Klippen gelinst. Spitze! Mindestens dreihundert Meter Autos, die alle geduldig warten mussten – auf mich!



Beim ersten Abstieg war es aber soweit. Mitläuferin Margarete ist nämlich eine Schissbüchse und geht ganz vorsichtig und bedächtig den steilen Trampelpfad hinab. Als alter Motorradfahrer weiß ich natürlich genau, dass man seine Augen da hat, wo man sich zwei Sekunden später befindet. So kann ich relativ schnell abwärts laufen, weiche den dicken Wurzeln und Steinen aus, nutze den einen oder anderen Vorsprung, der sicheren Tritt bietet und habe mich dann bald ein Stück abgesetzt. Die Radfahrer habe ich bis zum Ziel nicht mehr gesehen.



Später hat mich Margarete wieder eingeholt. An der dritten Trinkstation habe ich sie dann ziehen lassen. Für die letzten Kilometer musste ich auftanken. Cola mit reichlich Zucker und Koffein kann bei müden und schweren Beinen Wunder wirken. Am Hexenpfad hatte ich Margarete wieder eingeholt und sie hat mich nicht mehr gepackt. Als sie mit einer Minute Verspätung ins Ziel kam, hat Sie mir gratuliert und ich habe mich von ihr mit „Bis Morgen, dann“ verabschiedet.



Natürlich habe ich mich auch noch hinreißen lassen, eine Sixdays-Maskottchen zu kaufen. Erstmalig gibt es die Ameise, die bislang nur die Aufkleber und die bestickten Handtücher schmückte, als Stofftier. Jetzt fällt mir erst auf, dass das arme Tier amputiert ist. Zwei Hände, zwei Füße... Insekten haben sechs Gliedmaßen, alle! ausnahmslos. Wer hat das bloß verbrochen? Falls das eine Sparmaßnahme war – ich hätte für die fehlenden Gliedmaßen auch einen Euro mehr bezahlt. Aber so sind sie, die Riesenbecker Sixdays.



Ergebnis: Platz 425 von 427 gewerteten Läufern (15 raus)

Riesenbecker Sixdays

Montag, 22. Mai 2006

Tag 3, Von Tecklenburg nach Mettingen


Durchaus spannend ist die Morgenlektüre. Neben den lokalen Großereignissen, wie Schützenfest und Sängerjubiläen, wird dem besiegelten Abstieg des Bundesliga-Gründungsmitglieds Preußen Münster aus der Regionalliga Nord viel Raum geschenkt. Interessanter sind aber die Nachrichten zum samstäglichen Unwetter. Neben Windhosen im Grenzgebiet zwischen dem Ruhrgebiet und dem Münsterland wird von zahlreichen abgedeckten Dächern, umgestürzten Bäumen und zerstörten Autos berichtet. Bei diesem Wetter sind wir gelaufen! Ehrlicherweise muss eingeschränkt werden, dass es nicht alle so hart getroffen hat. Die schnellen Läufer waren bei Einbruch des Unwetters bereits im Ziel. Die langsamen und bedächtigen Läufer hat es erwischt. Das sind die Harten!



Die leichteste und kürzeste Etappe sollte es werden. Angepriesen wie ein Neuwagen:“Die laufe ich selbst ganz gerne. Das ist meine Lieblingsetappe.“ So wurde uns mindestens zweimal der dritte Tag schmackhaft gemacht. Ich hatte zunächst einmal mit meinem Knöchel zu kämpfen. Am Vorabend war ich noch ins Kino gehumpelt. Das ist nicht übertrieben. Auftreten konnte ich nicht mehr. Nicht mit dem Fuß und in dieser Verfassung nicht vor meinem Publikum. Ein Arztbesuch vor dem Lauf war von mir aus organisatorischen Gründen (Wartezeit und ein drohendes 'Aus' für das weitere Laufen) auch nicht wirklich ins Kalkül gezogen worden. Paracetamol, hoch dosiert, und vorsichtige Belastung mussten aber Klarheit bringen, ob überhaupt ans Laufen am dritten Tag zu denken war. Aber ich habe noch nie einen Wettkampf verletzungsbedingt aufgeben müssen. Und wer sollte die rote Laterne tragen, wenn nicht ich?



Für alle Fälle hatte ich geplant, mir doch noch eine weitere Laufjacke zuzulegen. Auf Oktoberwetter war ich gar nicht eingestellt. Nur kurze Hosen und eine einzige Jacke mit Regenqualitäten hatte ich eingepackt. Beim Einkaufsbummel in Lengerich (?) Ja, das muss erst einmal erläutert werden: Einkaufsbummel in Lengerich. Da stehen seit zwanzig Jahren mehrere ungenutzte und ungepflegte, leerstehende Häuser mitten in der Innenstadt. Noch kein Bürgermeister und keine Stadtveraltung hat es fertiggebracht, den Besitzern die Renovierung vorzuschreiben (vermutlich sitzen die Eigentümer selbst im Stadtrat) oder ein Gericht anzurufen, damit die investitionsmüden Eigentümer enteignet werden. So ist die Innenstadt von Lengerich immer noch unattraktiv wie eh und je. Geschäfte sterben und ab und zu findet sich jemand mit einer neuen Geschäftsidee und macht nach einem halben Jahr wieder pleite. Zielsicheren Erfolg haben offensichtlich nur die Mobiltelefonhändler.



Tatsächlich gab es aber ein gut sortiertes Sportgeschäft. Den Eindruck vermittelte zunächst die Auslage. Innen war es schon schlechter bestellt, konnte ich doch beim ersten Taxieren der Angebote gar nicht genau die Ecke lokalisieren, in der die Laufklamotten stehen. Eine Angestellte hat mich aber dann an den richtigen Ständer begleitet. Bei meiner Größenangabe 'XXL' war sie dann aber doch überfordert. Sie zeigte mir eine Funktionsjacke und meinte bedauernd, dass es eben nur XL sei. Die Jacke passte trotzdem, weil amerikanisch XL eben europäisch XXL ist. Ich weiß dass, obwohl ich keine Ober- und Sportbekleidung verkaufe. Die Jacke war deutlich teurer als geplant, hat aber abnehmbare Ärmel. Wenn es nicht ganz so schlimm wird, kann ich eine Weste daraus machen. Das hatte ich mir schon immer gewünscht – und jetzt in einem Sportgeschäft des Mittelzentrums Lengerich erstanden.



Stehengeblieben war ich beim Einkaufsbummel. Während ich durch Lengerich lief, wurde das mit dem Fuß immer besser. Also bei Belastung ist es gut und wenn ich ruhe, tut mir der Knöchel oder das Sprunggelenk weh. Zumindest war ich jetzt um eine persönlich Ausrede, um nicht laufen zu müssen, ärmer und konnte mich pünktlich umziehen und zum Sammelpunkt nach Mettingen fahren. Außerdem wollte ich mich um eine Bekanntschaft zu einem angehenden Orthopäden bemühen. Meine physischen Phänomene könnten ja leicht Inhalt einer Dissertation oder gar Habilitation werden.



„What is Mettingen famous for?“ werden die gänzlich Unbedarften jetzt fragen. Aber denen kann geholfen werden. Unter 'Tödden' oder Tüödden', auch unter 'Hollandgänger' kann man mal nachgoogeln. Leineweber aus Mettingen haben sich vor zweihundert Jahren zu Fuß auf den Weg nach Holland gemacht, um dort ihre Stoffe zu verkaufen. Später sind sie sesshaft geworden und haben das Geschäft von ihren neu gegründeten Handelshäusern aus betrieben. So sind in und aus Mettingen Unternehmen wie C+A (Clemens und August Brenninkmeyer) oder Hettlage entstanden. Und das zweihundert Jahre vor Benetton und GAP. Zwei Jahrhunderte bevor Paris, London und Mailand zu Modezentren wurden. Insofern sei aber auch kritisch angemerkt, dass sich die eben genannten Metropolen deutlich besser entwickelt haben, als das münsterländische Mettingen, das heute kaum noch jemand kennt.



Im Bus der uns zum Start nach Tecklenburg brachte, habe ich mich erst einmal mit Margarete ausgetauscht, die ja – mehr oder weniger – mit mir zusammen die rote Laterne trägt. Den nachfolgenden Oskar lassen wir mal weg. Mit der Altersgruppe der über siebzigjährigen muss man sich nicht mehr messen. Wer weiß, wer von uns noch in dreißig Jahren 20 Kilometer am Stück laufen kann. Geschweige denn, täglich an sechs aufeinanderfolgenden Tagen.



Von der kürzesten und leichtesten Strecke war nicht mehr viel zu merken. Es regnete. Wenn auch weniger als an den beiden vorangegangenen Tagen. Obwohl 'nur bergab' großzügig versprochen wurden, gab es wieder reichlich Steigungen, die nur gehender weise zu bewältigen waren. Und der dritte Lauf hintereinander macht sich dann doch irgendwann bemerkbar, wenn die Beine von Schritt zu Schritt schwerer werden. Nach eineinhalb Stunden hätte schon längst das angekündigte Gefälle in die Mettingen Innenstadt kommen müssen. An einer Bauernschaft aus drei bis sechs Häusern stand die ganze Nachbarschaft zusammen und hat uns mit mehr oder weniger flotten Sprüchen Mut gemacht. „Ab jetzt nur noch bergab“ wurde uns zum wiederholten Male angekündigt. Auf meinen Protest hin, dass wir das bereits mehrere Male gehört hätten und als leere Versprechung werteten, richteten sich gleich drei Finger auf mich und deuteten vor meine Schuhspitzen. „Hier ist der höchste Punkt, versprochen!“. Es war dann auch so. Das angebotene Bier habe ich mit der Begründung, dass ich noch Autofahren müsse, dankend abgelehnt.



Die typisch familiäre Atmosphäre der Riesenbecker Sixdays gab es heute auch an anderer Stelle wieder zu erleben. Bei einigen Streckenabschnitten ist es schon recht einsam. Stehen da doch nur einige Häuser zusammen und Eltern mit ihren Kindern verfolgen das Rennen tatsächlich bis die Radnachfahrer mit dem letzten Läufer vorbeikommen. Es bricht einem ja fast das Herz, wenn man eine privat initiierte und improvisierte Erfrischungsstelle durchläuft und einem ein vielleicht dreijähriges, blond gelocktes Westfalenmädchen mit treuem Blick einen triefenden Schwamm entgegenhält und „Möchten Sie diesen Schwamm haben?“ fragt (Die Betonung liegt auf dem 'Sie' mit nachfolgendem Fragezeichen. Offensichtlich hatten bereits mehrere Mitläufer abgelehnt und die Frage klang doch ziemlich enttäuscht). Aber bei zwischenzeitlichen Nieselregen und maximal 17° Celsius brauche ich doch wirklich keinen Schwamm. Ich hätte ihn einfach nehmen und ausdrücken sollen.



Ein weiterer Abschnitt im Wald zwischen Laggenbeck und Mettingen war so überflutet, dass wir zeitweise parallel zu dem eigentlichen Weg durch den Wald laufen mussten, da der Weg sich in eine Art 'Mettinger Seenplatte' verwandelt hatte. Einen Läufer konnte ich dort einholen. Einen quer über den Weg liegenden Baumstamm (ein richtiger Baum, kein Schößling) konnte ich trotz akuter Ermüdung und chronischem Übergewicht elegant überspringen, anstatt drumherum zu laufen (leider keine Zeugen) und die zeitweise hundert Meter vor mir laufende Margarete hatte ich dort auch eingeholt. Sie hat dann auf der Straße aber wieder einige Meter Vorsprung heraus gelaufen. Etwa einen Kilometer vor dem Ziel hat ihr Mann sie dann abgepasst und ins Ziel begleitet. Da bin ich nicht mitgekommen. Im Ziel habe ich sie dann mit „Heute hast Du mir den Schneid abgekauft“ beglückwünscht.



Wie im vergangenen Jahr gab es als Zugabe ein Biobrot eines lokalen Bäckers für jeden Finisher. Meine Güte, hat sich das wieder mal gelohnt. Ich laufe immer noch ziemlich weit hinten. Der Fuß hat gehalten (Was ist das bloß?) und denke: Selbst wenn ich ganz hinten laufe; dreimal Halbmarathon hintereinander. Wer kann das schon vorweisen? Wenn es morgen noch einmal klappt, sind schon zweidrittel vorbei. Heute war Halbzeit!



Ergebnis: Platz 413 von 415 gewerteten Läufern (27 raus)

Riesenbecker Sixdays

Dienstag, 23. Mai 2006

Tag 4, Von Mettingen nach Ibbenbüren-Dickenberg


Der vierte Tag ist der Schicksalstag. Das Wetter ist wie an den vorhergehenden Tagen äußerst bescheiden. Der neue Tag begrüßt mich mit Dauerregen – sehr zuverlässig. Neben den jetzt sich langsam bemerkbar machenden Ermüdungserscheinungen physischer Natur, kommen die psychischen Ermüdungserscheinungen. So richtig Lust auf weitere zwanzig Kilometer habe ich nicht. Man kann auch ohne Laufen ganz gut leben. Aber was man mal angefangen hat, gibt man nicht ohne triftigen Grund auf. Gestern war Halbzeit und heute Abend wären dann bereits zweidrittel geschafft. Also wacker weiter. Oder mit Sir Winston gesprochen: „We'll never surrender! We'll never give up!“



Dickenberg ist ein etwas außerhalb von Ibbenbüren liegender Ortsteil. Der Name bezieht sich offensichtlich auf die riesengroße Abraumhalde, die hier seit (vermutlich) Jahrzehnten aufgetürmt wird. Teilweise ist sie bereits so zugewachsen, dass man den Berg gar nicht mehr als künstliches Gebilde wahrnimmt. Das Ziel liegt auf einem Schulhof, mitten in einem pittoresken Neubau-Wohnviertel. Also besser gleich in den Bus steigen und nach Mettingen zum Start fahren. Vorher kann ich noch mit meiner Mit-Roten-Laterne-Trägerin Margarete und ihrem Mann einige Worte zum bevorstehenden Lauf wechseln. Als äußerst schwer ist er wieder einmal angekündigt, weil wir viele Streckenabschnitte passieren müssen, die durch die nasse Witterung zu Schlammlöcher wurden. Merkwürdigerweise ist Margarete immer noch gut drauf und lässt sich nicht von meiner schlechten Laune anstecken.



In Mettingen sind wir alle überpünktlich versammelt. Das überfordert die einzige öffentliche Toilette des Fremdenverkehrsamtes dramatisch. Aber da können Ausdauersportler improvisieren. Die ultimative Steigung der Sixdays wird zum wiederholten Male angekündigt: 24% Steigung – man empfiehlt, zu gehen. Nach wie vor für mich schier unglaublich: Kann irgendjemand 24% Steigung laufen? Ich kann mich an den Lauf vor zwei Jahren erinnern. Das geht nicht. Da muss man alpin die Anhöhe erklimmen. Margarete und mir ist auch eine trickreiche Stelle bekannt, an der sich Margarete vor vier Jahren und ich mich mit einer Handvoll Läufern vor zwei Jahren jämmerlich verlaufen haben. Man läuft den offensichtlichen Weg geradeaus, am besten hinter einem anderen Läufer her und übersieht die Pfeile nach rechts. Margarete ist damals, genau wie ich vor zwei Jahren, von unkundigen Ordnern auch glatt in die Walachei geschickt worden. Über dreißig Minuten Umweg und keine Zeitgutschrift. Aber heute kennen wir ja die Strecke.



Zwanzig Minuten vor dem Start. Pünktlich setzt der Regen ein. Ein kräftiger Schauer treibt die Läufer unter Markisen und in Garageneinfahrten. Aber fünf Minuten vor dem Start hat es sich ausgeregnet, die dunkle Wolke ist vorbeigezogen und macht sogar einem weiß-blauen Himmel platz. Wer kann schon sagen, für wie lange? Dann geht es zunächst einmal unspektakulär los. Nach zwei Kilometern kommt die besagte Stelle, an der statt geradeaus scharf rechts gelaufen werden muss. Kein Problem. Diesmal steht eine ortskundige Ordnerin dort und bugsiert alle Teilnehmer in die richtige Richtung. Offensichtlich. Genau kann ich es nicht sagen, weil bereits nach zwei Kilometern fast alle Läufer aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Ich habe schwere Beine, die Waden tun weh und die beiden Radnachfahrer gehen mir mit ihren Diskussionen auf den Zeiger. Das ist aber meine Schuld, ich könnte ja, zum Beispiel, schneller laufen. Bald kommt die angekündigte, schweinemäßige, sausteile Steigung. Das offizielle Verkehrsschild weist sogar 25% aus. Das sind glatte 45°, so stelle ich mir einen Abfahrtshang vor. Margarete kann ich bald nur noch zweihundert Meter vor mir ausmachen. Als ich mich bei den Radnachfahren für eine knappe Minute in die Büsche abmelden muss, ist Margarete anschließend gar nicht mehr zu sehen.



Außerdem habe ich als unfreiwilliger Mithörer der Nachfahrergespräche mitbekommen, dass Otto offensichtlich nicht mehr dabei ist. Otto in der Altersklasse M70 war meine letzte Hoffnung, nicht als Letzter in der Liste zu landen. Aber jetzt ist es wohl bittere Realität: Ich werde morgen der Letzte auf der Liste sein. Spontan fällt mir ein Verbesserungsvorschlag ein, den ich unbedingt schnell an den Mann bringen muss: Die Liste darf nicht mit dem letzten gewerteten Läufer enden, sondern muss in der Nachfolge noch die aus der Wertung genommenen Sportler aufführen. So ähnlich wie bei den Formel 1- Rennen. Zumindest würde die veränderte Optik mir deutlich besser gefallen.



Irgendwann – ich kämpfe mich von Kilometer zu Kilometer – kommt ein wirklich schöner Streckenabschnitt. Es geht etwa zwei Kilometer auf einem breiten Waldweg quer durch die Wildnis. Endlich seit Tagen sieht man zwischen den Baumwipfeln strahlend blauen Himmel und hunderte von Vögeln machen einen Riesenterz. Wenn es keine Wettkampf wäre, hätten wir hier eine wirklich schöne Laufstrecke durch den Frühlingsabend-Sonnenschein-Wald mit Vogelgezwitscher und Harzgeruch. Leider stören die laut diskutierten Urlaubspläne der beiden Radnachfahrer die Idylle etwas. Bald wird der Wald dann etwas lichter und am Ende des Weges mache ich ein paar weiß-grüne Gestalten aus.

Wie vor zwei Jahren steht eine Abordnung von Grün-Weiß Steinbeck dort und macht eine Geräuschkulisse, als ob gerade Paula Radcliff in Weltbestzeit durchläuft. Eine Verwechselung ist ausgeschlossen. Ich trage meine Mexico-Shirt. Das Three-Lions-England-Shirt musste zuhause bleiben. Zwanzig Leute vom Steinbecker Turnverein haben offensichtlich heute Abend nichts besseres vor, als auf den letzten Läufer zu warten und ihm zuzujubeln. So geht es zu bei den Riesenbecker Sixdays. Gleich dahinter macht eine Nordic-Walking-Truppe ihre Dehnübungen. Das flotte, an mich gerichtete „Hopp! Hopp!“ der Trainerin quittiere ich zum Gaudi ihrer Truppe mit: „Nicht nur anfeuern, selber laufen!“. Worauf sie schlagfertig retourniert:“ Wir haben fertig!“ Unterwegs stehen auch diesmal wieder an zahlreichen Stellen die Nachbarschaften zusammen und feuern mich an.



Auch gibt es im Kreis Steinfurt noch echte Dorfbüttel. Bei einer der zahlreichen Straßenabsicherungen bremst ein Polizist mehrere Autos aus. Als sich ein Van etwas weiter vorwagt, weil er offensichtlich nicht ausmachen kann, wo er stehenbleiben soll, beschwört ihn der Polizist in markigem Plattdeutsch: „Bliev staoun!“



An Steinbrüchen und Abraumhalden vorbei geht es weiter in Richtung Dickenberg. Man kann da allerdings bei den Sixdays nie so sicher sein. Hatte ich doch bereits nach einer dreiviertel Stunde einen Fahrradwegweiser mit dem Hinweis 'Dickenberg 5,5 Km' ausgemacht. Aber irgendwie folgt der Wanderweg solch ominösen Schleifen, dass aus den objektiven 5,5 Kilometern gefühlte 55 werden. Irgendwann kommt dann aber doch Dickenberg in Sicht. Die Aufforderung an Ordner und Polizei bei der letzten Straßensperre doch mal mich für fünf Minuten anzuhalten, stößt auf allgemeines Unverständnis. Es sei nur noch ein knapper Kilometer wird mir beschieden.



Diesmal bin ich der letzte Läufer im Ziel. Deshalb wird mir das zweifelhafte Vergnügen zuteil, dass etwa zwanzig Cheerleader mit ihren Pompoms hinter mir herlaufen und mich die letzten zwanzig Meter ins Ziel begleiten. Ein tolles Gefühl: Ich bin alt, grau, übergewichtig und langsam und trotzdem rennt ein Haufen frühreifer Mädels hinter mir her.



Margarete steht mir ihrem Mann im Ziel und drückt mir die Hand. Irgendwie sieht ihr Lächeln etwas überlegen aus, oder bilde ich mir das ein? Paula Radcliff habe mich in London auch stehengelassen; ich sei es gewöhnt, dass die Mädels schneller sind, kann ich Margarete aufklären. Sie macht mir Hoffnung: Morgen sind wieder einige steile Abstiege zu bewältigen. Dann schlägt meine Stunde. Das kann man auch anders interpretieren.



Ergebnis: Platz 411 von 411 gewerteten Läufern (31 raus)

Riesenbecker Sixdays

Mittwoch, 24. Mai 2006

Tag 5, Von Ibbenbüren-Dickenberg nach Ibbenbüren-Ost



Dickenberg und das Sportzentrum-Ost liegen beide in Ibbenbüren. Man kann sich kaum vorstellen, dass sich daraus ein Halbmarathon stricken lässt, aber uns wird die Strecke mit 21 Kilometern angegeben. Diesmal muss erstmalig von der traditionelle Strecke abgewichen werden. Schuld daran ist, so wird uns erläutert, die Autobahn-Maut, die jede Menge Lastkraftwagen auf die kostenfreien Nebenstrecken bringt. Somit ist die Polizei nicht bereit, uns an einer exponierten Stelle über die Straße zu helfen. Etwas weiter außerhalb an einen Zebrastreifen würde ein Radar-Messwagen postiert. Der animiere die Autofahrer zu rücksichtsvoller und defensiver Fahrweise. Somit wäre ein sicherer Übergang gewährt.



Während der Busfahrt zum Start versucht Norbert krampfhaft die Strecke und insbesondere die Streckenänderungen zu erläutern. Mit seinen langen Armen zeichnet er riesengroße 180°-Bögen und erläutert anhand der Geografie: „Da oben kommt Ihr dann raus.“ Ein weiterer 180°-Schwenk: „Und da, zeig' ich Euch gleich, geht es dann weiter.“ Nächster Schwenk:“Früher sind wir ja da gelaufen, aber das geht jetzt nicht mehr.“ Schwenk zurück: „Da, da ist das, wo Ihr weiterlaufen müsst. Dann ist es aber auch nicht mehr weit.“ Riesenbeck Sixdays ist echt easy. Verstehe ich gar nicht, warum sich da Leute verlaufen...



Das Wetter bringt heute mal echte Abwechselung. Während es an den vergangenen Tagen bereits seit dem Morgen gießt, ist heute die Straße trocken und das Wetter, wenn auch kühl, einigermaßen erträglich. Dafür beginnt der Regen pünktlich zum Start. Bereits fünfzig Minuten vor der offiziellen Startzeit sind die meisten Läufer vor Ort und drängen sich unter ein Vordach auf dem Pausenhof der Dickenberger Schule. Regen, Wind, Temperaturen kaum über 12° Celsius und ein Großteil der Teilnehmer steht in kurzen Hosen und ärmellosen Shirts wartend herum. Die meisten haben auch noch echte, knackige Ausdauerläuferfiguren. Kein Gramm Fett zuviel. Wie halten die das bloß aus? Ich verkrümele mich lieber auf die Toilette. Der Heizkörper bleibt zwar kalt aber wenigstens ist es trocken und es pfeift kein Wind. Das Ambiente mit dem speziellen Odeur ist allerdings auch nicht sonderlich einladend. Einige Teilnehmer nutzen den Vorraum noch für letzte Vorbereitungen. Da werden Zehen abgeklebt, Vaseline auf delikate Stellen verteilt und Startnummern befestigt. Währenddessen staut sich eine beachtliche Schar vor den Klokabinen. Mit fortschreitender Zeit nimmt die Intensität des Geruchs beachtlich zu. Unglaublich, dass es ein Mitläufer schafft, sich angesichts dessen, ohne Rührung, noch eine komplette Banane einzuverleiben. Mahlzeit!



Langsam zieht auch dieser Schauer vorbei und fünf Minuten vor dem Start ist fast kein Regen mehr zu spüren. Ich friere jämmerlich und so ist der Start fast eine Erlösung, als die körperliche Belastung kommt und zumindest das Gefühl von Wärme sich breit macht. Das hält aber nicht lange vor, dann folgen weitere Schauer und bevor der Schweiß die Laufklamotten von innen durchtränkt hat, schafft das der Regen von außen. Auf den ersten beiden Kilometern kann ich noch ganz gut mithalten, aber dann wird der Abstand zu den Vorauslaufenden zusehends größer. Bald schon hat mich Margarete eingeholt und mit ihr kommt auch der unvermeidliche Radnachfahrer. Diesmal ist es nur einer. Deshalb ist zumindest bei den schönen Waldabschnitten Ruhe. Etwas Laufgenuss ist doch möglich, obwohl mir das Wetter seit Tagen auf 's Gemüt schlägt. Margarete gibt mit einer weiteren Läuferin den Ton an und kann sich bald wieder absetzten. Besonders die langen, flachen Passagen auf den asphaltierten Straßen machen mir zu schaffen. Manchmal sind da auch noch leichte bis mittlere Steigungen dabei. Das ist nicht meine Welt. Selbst wenn Margarete so eine kurze Steigung geht und ich laufe, komme ich kaum an sie heran. Aber auch diesmal lösen sich die asphaltierten Wege häufig mit schönen Waldrouten ab. Insbesondere wenn es bergab geht, können die beiden Läuferinnen nicht mithalten. Margarete erläutert mir, dass sie sich einmal die Hand gebrochen hat, als sie auf einer Gefällstrecke gestürzt ist. Seitdem hat sie etwas Manschetten davor und geht lieber langsam bergab.



An einer Kreuzung kann ich Margarete gerade noch mit dem Radnachfahrer zurückpfeifen. Sie war falsch abgebogen und muss jetzt fünfzig Meter zurücklaufen. Im Großen und Ganzen ist die Auszeichnung der Strecke diesmal aber hervorragend und man hat nicht allzuviele Chancen, sich zu verlaufen. Außerdem hatten wir ja von Norbert klare Anweisungen zum Streckenverlauf bekommen.



Nach etwa zweidrittel zurückgelegten Weges kommen wir an die ehemalige Bundesstraße, die der Grund für die Streckenverlegung war. In der Tat steht vor dem Zebrastreifen ein getarnter Radarmesswagen mit Siegburger Nummer. Alle Autofahrer kennen ihn offensichtlich und bremsen scharf ab. Allerdings steht auf der Gegenfahrbahn doch ein Polizist und unterstützt mit der Kelle. Während ich so gefahrlos die Straße überquere, bemerke ich, wie ein Lastwagenfahrer, der das eindeutige Signal des Polizisten wohl missverstanden hat und langsam über den Zebrastreifen rollt von eben dem Polizisten mit einer eindeutigen Handbewegung (verbale Übersetzung: Wohl bescheuert, oder?) zur Ordnung gerufen wird. Mir fällt nur spontan ein, dass so ein Signal eines Verkehrsteilnehmers gegenüber einem Polizisten einen vermutlich vierstelligen Betrag kostet.



Merkwürdigerweise waren mir von den Sixdays 2004 kaum mehr markante Streckenabschnitte des fünften Wettkampftages präsent. Erst jetzt zu Schluss, als es noch einmal durch den Wald geht, erinnere ich mich. Diesmal wird es aber richtig schlimm. Sobald es abwärts geht, lassen mir die beiden Ladies den Vortritt und fallen mit dem Radnachfahrer zurück. Meine forsches Angehen rächt sich aber fast. Der schmale Weg ist völlig verschlammt und durch vierhundert Läufer noch einmal richtig durchgearbeitet worden. Die Füße rutschen laufend weg und finden erst halt, wenn links oder rechts der Bewuchs anfängt. Auf einmal geht es steile drei Schritte bergab und mir gleitet erst der eine, dann der andere Fuß weg. Wild mit den Armen rudernd finde ich wieder die Balance und muss aber weiter beschleunigen, weil auf dem rutschigen Untergrund Bremsen gar nicht möglich ist. Noch ein- oder zweimal bin ich nahe an einem Sturz. Der wäre fatal im eigentlichen Wortsinn, da das Gelände auf der rechten Seite streckenweise einige Meter abfällt.



Irgendwie habe ich aber auch diesen Streckenabschnitt hinter mich gebracht. Es beginnt ein etwa zwei Kilometer langes Gefällstück, dass fast bis ins Ziel reicht. Ich kann noch einmal etwas freier laufen und hoffe, dass die beiden Damen, die ich jetzt so elegant im Dreck habe abhängen können, mich nicht mehr einholen. Einige der schnellen Läufer sind bereits auf der Rückreise und feuern mich beim Passieren durch lautes Hupen an. Ich hatte erst an eine türkische Hochzeit gedacht, aber dann wurde mir klar, dass die mich meinten. Einen Passanten, der mir applaudiert kann ich noch als Margaretes Ehemann identifizieren. Mit etwas besorgtem Gesicht fragt er mich: „Kommt sie noch?“ Ich kann ihn beruhigen: „Sie kommt gleich!“



Auf dem letzten Flachstück treffe ich noch zahlreiche Schlachtenbummler. „Ist nicht mehr weit.“ ist der übliche Trost. Erfreulicherweise hält man sich heute mit präzisen Längenangaben zurück. Im Gegensatz zu 2004 ist der Lauf heute nicht beim Einlauf in das Stadionoval beendet, sondern man hat uns dazu verdonnert, erst noch eine vierhundert-Meter-Runde zu drehen. Das geht auf der Innenbahn gar nicht, weil die von den schnelleren Läufern so aufgeweicht ist, das man nur durch roten Dreck läuft. Ich weiche also auf eine der äußeren Bahnen aus und so wird aus meiner 400-Meter-Runde eine 440-Meter-Runde. Das ist aber halb so schlimm, da ich beim Einbiegen auf die Gegengerade noch keine Verfolgerin ausmachen kann. Mein Vorsprung hat also gehalten. Erst als ich im Ziel bin, sehe ich Margarete einlaufen. So etwa zwei Minuten werde ich ihr abgenommen haben. Trotzdem bleibt wohl die rote Laterne bei mir. Ich trage das mit Fassung. Sind doch bereits wieder Läufer ausgeschieden. Einmal noch, dann gibt es die Medaille. Für morgen ist Dauerregen angesagt. Wir Rote-Laterne-Träger haben ein breites Grinsen im Gesicht und verabschieden uns wieder mit: „Bis morgen!“ Auch dann wird das Starterfeld wieder kleiner geworden sein.



Ergebnis: Platz 403 von 403 gewerteten Läufern (39 raus)

Riesenbecker Sixdays

Donnerstag, 25. Mai 2006

Tag 6, Von Ibbenbüren-Ost zurück nach Riesenbeck



Am letzten Tag kommt erstens alles anders und zweitens als man denkt. Da der Start bereits um 14.00h vorgesehen ist, hatten wir diesmal keine 24 Stunden Zeit für die Regeneration. Trotzdem ist die Stimmung unter den Teilnehmern gelöster als an den Vortagen. Das Ziel an dem wir uns alle für den Bustransfer zum Start versammeln, kennen wir ja bereits. Hier sind wir vor sechs Tagen gestartet und hier werden wir heute zurückerwartet. Noch einmal 25 Kilometer kündigt der Organisationsleiter Michael Brinkmann an. Die Busse stehen pünktlich bereit und nehmen uns mit dem Ziel Ibbenbüren auf. Da Norbert heute nicht dabei ist, um in unnachahmlicher Weise die Streckenführung zu erläutern, übernimmt das eine Kollege von Marathon Steinfurt. Mit weit ausholenden Armbewegungen zeigt er den Übergang über den Kanal bei Bevergern und die zu laufenden Streckenabschnitte im Wald. Sehen kann man die jetzt nicht, aber plastisch beschrieben wird es. Das ist wohl ein ähnliches Ritual, wie bei den Bobfahrern, die kurz vor dem Start noch einmal mental die Strecke durchgehen.



In Ibbenbüren regnet es nicht und die Temperaturen sind erträglich. Die dreiviertelstündige Wartezeit ist nicht so ätzend wie gestern. Es sind viel mehr Angehörige bei den Läufern – es ist eben das Finale. Pünktlich um 14.00h fällt der Startschuss und es geht los. Ich lasse mich hängen, da ich auf Dauer sowieso nicht bei den schnelleren mithalten kann und passiere bereits nach etwa 500 Metern einen Läufer, der allerdings geht. Etwas derangiert stiere ich im Vorbeilaufen auf seinen Bauch, um festzustellen, ob er eine Startnummer hat und überhaupt zum Teilnehmerfeld gehört. Er hat eine Startnummer! Wieder einer weg. Ich wundere mich nach zwei Kilometern, dass mich zwar Margarete inzwischen passiert hat, dass ich aber den Nachfahrer nicht ausmachen kann. An einer Einmündung, die durch Helfer gesichert ist, steht bereits wieder ein Teilnehmer und diskutiert mit den Helfern. Offensichtlich haben jetzt bereits zwei weitere Läufer aufgegeben. Es geht mir jetzt nicht mehr richtig schlecht, obwohl noch über zwanzig Kilometer vor mir liegen.



Nach etwa fünf Kilometern hat sich Margarete bereits wieder einige hundert Meter abgesetzt. Auf den langen, geraden Strecken kann ich sie immer vor mir ausmachen. Plötzlich höre ich die typischen Geräusche von langsam rollenden Fahrradreifen hinter mir.

„Hallo!“ begrüßt mich der Nachfahrer. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Dich. Welche willst Du zuerst hören?“

„Die schlechte kenne ich.“ ist meine knappe Antwort. „Ich bin letzter“ bin ich mir sicher.

„Nein, das ist die gute Nachricht: Du bist nur vorletzter! Aber die schlechte Nachricht ist, dass ich ab jetzt bei Dir bleibe.“



Es stellt sich heraus, das sich der gehende Sportsfreund aus den Niederlanden beim Start eine Zerrung zugezogen hat, die Strecke aber gehenderweise absolvieren will. Da das eigentlich nicht zulässig ist, muss er nun auf eigenen Faust zurück nach Riesenbeck. Ich habe – mal wieder – Begleitung. An einer Getränkestation geht ein Helfer mit zwei Bechern in der Hand neben mir her, damit ich für die Flüssigkeitsaufnahme keine Zeit verschwende. Jetzt wo es wieder bergiger wird, gelingt es mir, die drei vorauseilenden Läufer, unter ihnen Margarete, einzuholen. Ich wundere mich, dass es so gut läuft. Immerhin waren da schon einmal so zwischen drei- bis vierhundert Meter Vorsprung drin. Endlich geht es bergab. Meine Stunde. Margarete räumt mit den anderen das Feld und ich kann es auf der rutschigen, steilen Buckelpiste endlich mal gehen lassen. Bald höre ich die anderen nicht mehr. Sie sind weit hinter mir und der weiche Waldboden schluckt die Geräusche. Als Realist weiß ich aber, dass die letzten Kilometer flach sind. Mein Vorsprung wird nicht ewig halten.



Am 'nassen Dreieck', wo sich der Mittelland- und der Dortmund-Ems-Kanal treffen, bietet mir eine Helferin ein Isogetränk an. Als ich ihr den leeren Becher hinhalte schaut sie etwas verunsichert. „Gibt 's nichts mehr?“ frage ich ebenfalls unsicher, sehe aber ein jungfräulich verschweißtes Sixpack unter dem Tisch. Jetzt wirbelt die Gute los und reißt nervös die Packung auf. Nach dem sie mir den Becher gefüllt hat, nehme ich ihr kurzerhand die Flasche ab und schütte einen halben Liter Flüssigkeit in mich hinein. „Meiner ganzer Vorsprung ist hin“, stöhne ich noch. Dann laufe ich weiter. Kurz bevor die Bergstrecke zu Ende war, hatte ich noch ein gelbes Schild an einem Baumstamm gesehen. Ich hatte es erst für eine Waldbrandwarnung gehalten. Beim Näherkommen konnte ich den Text aber deutlich lesen: 'Noch 10 Kilometer'. Die letzten zehn Kilometer sind vermessen und beschildert. Dann weiß man wenigstens, was noch auf einen zukommt.



Die Beine werden aber jetzt immer schwerer. Die Strecke ist eben und ich befürchte, dass mir die Verfolger bereits wieder im Nacken sitzen. In Bevergern muss ich mir auf die Schultern klopfen lassen. „Du hältst aber durch?“ wird nicht zum ersten Mal heute die Frage an mich gerichtet. „Aber immer, keine Frage!“ lautet meine lakonische Antwort; auch nicht zum ersten Mal.



Zehn Kilometer seien doch nur eine mäßige Trainingsstrecke, rede ich mir ein. Ab neun Kilometer warte ich sehnsüchtig auf die sieben. Gut sieben Kilometer ist unsere kurze Trainingsstrecke im Sindelfinger Wald. Das geht jetzt auf der ebenen Route auf einer A...backe. Allerdings kann ich meine Hüftknochen kaum noch spüren.



Ich warte auf die fünf. Bei fünf Kilometer denke ich mir, dass das meine ganz kurze Trainingsstrecke zuhause ist, die ich ja schon seit Jahren nicht mehr laufe. Fünf Kilometer sind zu kurz, um richtig warm zu werden. Panisch suche ich die Bäume am Horizont nach einem Dach ab. Ich weiß, dass es ab der Surenburg nur noch drei Kilometer sind. Aber das Dach der Surenburg kann ich nicht entdecken. Die Bäume wachsen zu dicht.



Bei einem Richtungswechsel auf einer kleinen Brücke über einen Entwässerungsgraben werfe ich kurz einen Blick über die Schulter und sehe meine Verfolger. Jetzt nach über acht Kilometern haben sie endlich aufgeholt. Sollen sie doch. Während wir um die Surenburg herumlaufen, gehen die ersten 'ehemaligen' Verfolger bereits vor mir in Führung. An der Getränkestation sind es bereits dreißig Meter Vorsprung. Als ich kurz anhalte und einige Becher Isogetränk hinunterstürze, steht plötzlich Margarete neben mir. Nur noch zweieinhalb Kilometer raunt mir eine Helferin verschwörerisch zu. Ich wundere mich. Sollte ich das drei-Kilometer-Schild übersehen haben? Fünfzig Meter weiter wartet es an einem Baumstamm. Wiederum hat es eine ominöse, harrypottermäßige Streckenverkürzung gegeben. Aber vermutlich wollte die Helferin mich nur moralisch aufbauen. Das war aber auch dringend notwendig.



Als untrügliches Zeichen dafür, dass ich die rote Laterne trage, habe ich jetzt wieder Sascha auf dem Mountain-Bike am Hacken. Er zeigt mir das Elternhaus eines Läufers, der gestern mit dem Verdacht auf Bänderriss ausgeschieden ist. Als Gegenleistung erläutere ich ihm, dass ich zwar aus Kirchheim unter Teck komme, aber in Lengerich aufgewachsen bin. Das mich die landsmannschaftliche Bindung zu den Riesenbecker Sixdays gebracht hat, beruhigt ihn ungemein; macht die Strecke aber auch nicht einfacher. Bald zeigt er mir sein Elternhaus, einen stattlichen westfälischen Bauernhof. Er würde mich gerne auf eine Tasse Kaffee bei seinen Eltern einladen, verkündet er generös. Aber ich würde vermutlich lieber bald im Ziel sein, relativiert er sein Angebot gleich wieder. Ich habe nur Augen für eine alte Buche vor dem Bauernhof. 'Noch 1 Kilometer' kündet das Schild an.



Sascha macht mir Mut und hilft wo er nur kann. Zwölf Meter Höhenunterschied seien noch zu überwinden. Margarete, die bereits seit einigen hundert Metern von ihrem Mann begleitet wird, geht. Ich laufe. Beim Einbiegen auf die Hauptstraße grinsen nicht nur die Läufer. „Nur noch bergab!“ heißt es gleich mehrmals von den Helfern. Vermutlich sind die jetzt genauso froh wie die Teilnehmer, dass die Tortur ein Ende hat. Auf den letzten hundert Metern ist Margarete platt. Ich kann noch eine Art Spurt hinlegen und unter lautem Applaus aus der Menge zu Margarete aufschließen. „Du läufst glatte zwölf Stundenkilometer“ nehme ich noch Saschas Hinweis wahr, dann biege ich auf die Zielgerade ein.



Jetzt Margarete noch weglaufen zu wollen wäre lächerlich, da sie ja sowieso über zwei Minuten Vorsprung hat. Kurz vor der Matte drehe ich mich um. Sie läuft noch einen halben Schritt hinter mir. Ich kriege sie an der Schulter zu fassen und schiebe sie sanft vor mir über die Ziellinie. So gefalle ich mir selbst am Besten. Später muss ich der Ergebnisliste leider entnehmen, dass es nicht geklappt hat. Offensichtlich haben wir die Matte der Zeitnehmer so unglücklich passiert, das Margarete eine Sekunde nach mir gewertet wird.



Eine Medaille bekomme ich gleich umgehängt und ein Finisher-T-Shirt in die Hand gedrückt. Der Lohn für vierzehn Stunden Schufterei. Nun gut, andere haben dafür weniger als acht Stunden schuften müssen. Dezent werden Margarete und ich darauf hingewiesen, bei der abschließenden Show mit auf die Bühne zu kommen. Da ich nichts zum Wechseln dabei habe, bleibt mir nichts weiter übrig, als die zwanzig Minuten bei Cola, Wasser und Orangenschnitzen zu warten.



Dann werden wir zur Bühne gerufen. Ich warte etwas im Hintergrund und kann so erst einmal einen Blick auf die Sambatruppe werfen. Die Männer interessieren mich weniger. Die Damen schon eher. Für die frischen Temperaturen knapp gekleidet, zittern sie mit ihren Sambaschrittchen umeinander. Ihre Figuren sind ähnlich üppig wie meine, nur ist die Üppigkeit deutlich vorteilhafter verteilt. Der Teint ist brasilianisch milchschokoladenbraun und außerordentlich appetitlich. Dieses Samba-Rumgehampel macht mich aber nervös. Endlich geht es los. Alle auf die Bühne (Margarete ist leider verschwunden) und dann Danksagung, Glückwünsche an die beiden Sieger und eine Flasche Wein von der Ortsvorsteherin von Riesenbeck an mich. Ich sei ja, so führt sie aus, der lebende Beweis dafür, dass teilnehmen wichtiger als siegen sei. „Danke sehr“, sage ich artig und überlege mir, ob es nach sechs Tagen Laufen morgen nicht langweilig wird.



Endergebnis: Platz 397 von 397 gewerteten Läufern (45 raus)

Resümee:



Letzter in einem Wettkampf zu werden, ist ja nun wirklich keine Großtat und es ist mir in meiner Läuferkarriere seit 2002 auch tatsächlich heute zum ersten Male gelungen, bei einem offiziellen Wettkampf das Schlusslicht zu sein. 2004 bin ich besser gelaufen, hatte mich besser vorbereitet und vor allem: ich wog weniger. Allerdings war ich deswegen auch nicht glücklicher. Bei aller Selbstkritik sei aber angemerkt:

Viele sind es nicht, die es auf sich nehmen, sechsmal an aufeinanderfolgen Tagen jeweils eine Halbmarathonstrecke hinter sich zu bringen. Und selbst von denen, die es bei den Riesenbecker Sixdays versucht haben, haben am Ende gute zehn Prozent das Handtuch geworfen. Neben den Verletzungen dürfte das ausgesprochen bescheidene Wetter ein Übriges getan haben. Es gehört schon eine gewisse Portion Masochismus dazu, sich sechs Tage lang bei Wind und Regen eine Stunde nach draußen zu stellen, um auf den Start zu warten. Ich habe durchgehalten und das war es wert. Über 470 Läufer hatten sich angemeldet. Am ersten Tag sind 442 ins Ziel gekommen und 397 sind am sechsten Tag übriggeblieben. Ich war einer davon.



Da wo man Schwächen zeigt, muss man den Besseren neidlos den Vortritt lassen. Da, wo man Stärken hat, rennt man los und gibt den Schwächeren vielleicht noch einen Tipp. Seine Ressourcen teilt man sorgfältig ein, behält aber immer das große Ziel im Auge. Wenn man sich dazu entschlossen hat etwas anzufangen, beendet man es auch und bricht nicht ab, bloß weil das Wetter gerade nicht passt. Zuspruch und Anerkennung gibt es für jeden der mitmacht und durchhält. Jeder der die Tagesetappe schafft, hat Großartiges geleistet. Jeder der am Schluss durchgehalten hat, ist ein Sieger. Insofern ersetzt dieser Wettkampf glatt ein Management- und Vorgesetztenseminar. Schade, dass kaum Vorgesetzte und Manager teilnahmen.